Wer sich immer mal wieder mit richtig nostalgischem Ambiente im Weltnetz bewegen möchte, dem empfiehlt sich der textbasierte Linux-Browser Lynx. Da sehen auch die schicksten HTML5-CSS3-Webseiten so richtig nackt aus. Es sei denn, ein Webdesigner hat sich die Mühe gemacht und ein Media-Format für einen textbasierten Browser hinterlegt. So viel Vorbildlichkeit findet man heute aber eher in den selteneren Fällen.
Nun ist es ja mit Software-Zyklen und Major-Releases so eine Sache. Der ein oder andere wird sich jetzt an seine Ausbildung im Bereich Projektmanagement erinnert fühlen. Da dämmert womöglich so dunkel ein Spiralmodell nach Böhm oder es plätschert ein Wasserfall durch den Kopf. Für lokale Anwendungen hat vieles davon noch Gültigkeit, aber das Weltnetz hat inzwischen ganz eigene Gesetze entworfen.
Eine Besonderheit am „Web 2.0“ ist, dass diese Version vor der 1.0 geboren wurde. Der nachdefinierte erste Release stellte durch eine auserwählte Gruppe Eingeweihter weltweit Daten mit überwiegend statischen Präsentationen zur Verfügung, die eine große Gruppe purer Konsumenten meist als Grundlage für lokale Anwendungen nutzte. Auch wenn es in diesem Stadium schon Formularelemente gab, so war eine richtige Interaktion des Users mit dem Web-Inhalt nicht „live“ vorgesehen. Dies änderte sich eben entscheidend mit Version 2.0.
Das „Mitmach-Netz“ erblickte vorallem im Zuge der sogenannten sozialen Vernetzung entgültig das Licht der ganzen Welt. Der Nutzer konsumierte Inhalte nicht nur, er stellte selbst welche durch neuartige Server-Applikationen zur Verfügung. Denken wir an die Geburt des ersten Web-Logs. Ein historischer Moment. Im gleichen Zuge entwickelten sich Programmiertechniken, die zunehmend die sofortige Interaktion zwischen Nutzer und Applikation und deren Präsentation vertieften. Viele Webseiten bekamen ihre Inhalte überhaupt erst durch die Nutzer selbst, stellten nur eine programmiertechnische Hülle zur Verfügung. So entstanden Datenplattformen, welche wiederum durch bestimmte Filter und Schnittstellen untereinander verknüpft, ganz neue Inhalte im Kontext entstehen lassen konnten. Und alle sogenannten Content-Management-Systeme. Die einfach zu bedienenden Elemente machten es wirklich jedem möglich, an der Gestaltung teilzunehmen.
In der aktuellen Entwicklung werden sogar die meisten „lokalen“ Anwendungen immer mehr durch das „Cloud-Computing“ ersetzt. Das Internet ist auf dem Weg zu einer reinen Präsentationsschnittstelle. Die zunehmenden mobilen Endgeräte stellen mit den sogenannten Apps nur noch „Verknüpfungen“ zu interaktiven Server- und Datenbankanwendungen dar. Bald bedienen wir nur noch kleine Terminals, die lediglich große Datenströme in grafisch aufwendigen Benutzeroberflächen in optische Präsentationen verwandeln und die Reaktionen des Nutzers sofort zurückschicken. Alles, was die nahe Zukunft erstmal braucht ist vorallem Bandbreite.
Schon kein Geringerer als der Herr O'Reilly definierte das „Web 2.0“ als „die Geschäftsrevolution in der Computerindustrie“. Und auch wenn die mittlerweile etwas ausgeuferte Kommerzialisierung des Weltnetzes nicht nur seinen Erfinder abschreckt, freut sich doch so mancher virtuelle Schnäppchenjäger über jeden Zalando Gutschein in seinem Postfach oder in den Adds der besuchten Webseiten. Vielleicht kann man es im nächsten Major Release ja schon allen recht machen...